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Leben in illiberalen Zeiten
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- Zuletzt aktualisiert am Donnerstag, 27. Dezember 2018 21:01
- Veröffentlicht am Donnerstag, 27. Dezember 2018 21:01
- Geschrieben von Richard Guth
Von Dr. Johann Till
Vor viereinhalb Jahren, im Juli 2014, überraschte Ministerpräsident Viktor Orbán mit seiner Grundsatzrede bei seiner jährlichen Sommeruniversität in Siebenbürgen nicht nur die Politiker und Geisteswissenschaftler der Europäischen Union, auch die politikinteressierte „gemeine“ Bevölkerung horchte auf. Orbán verkündete, aus Ungarn einen illiberalen Staat machen zu wollen. Auf ungläubige Nachfragen westlicher Journalisten hin präzisierte er seine Aussage: Er gedenke, entgegen der nicht mehr zeitgemäßen liberalen Demokratie westlicher Prägung, ein illiberales Demokratiemodell in seinem Land einzuführen.
Eine Empörungswelle ging durch die westlichen Medien, galt doch Orbán beim Untergang der Sowjetherrschaft in Mitteleuropa als Vorkämpfer der Freiheit und Unabhängigkeit. Auf seiner Sommeruniversität 2018 hat Orbán im rumänischen Bad Tuschnad / Băile Tușnad / Tusnádfürdő die Bruchlinie zwischen seinem Demokratieverständnis und dem der westlich liberalen Gesellschaftsform vertieft.
Die Ablehnung des liberal verfassten Staates als Herrschaft- und Lebensform war in Eruopa unvorstellbar. Nun ist dies eingetreten. Eingetreten, knapp dreißig Jahre nach dem Untergang der kommunistisch-sowjetischen Herrschaft in Ost-Europa. In einem Land, das gut fünfzig Jahre Fremdherrschaft ertragen musste und dessen Bevölkerung sich um nichts so sehr sehnte wie nach der Freiheit und dem Wohlstand des Westens. Es ist eine Zäsur im vereinten Europa, dass eine Regierung eines Mitgliedslandes den liberalen Werten der Demokratie abschwört. Seine Gefolgsleute beteuerten 2014, Orbán habe lediglich die Abkehr von der neoliberalen Wirtschaftspolitik gemeint in seiner Rede und es ginge ihm im Grunde nur um den Schutz der christlichen Werte, die in Ungarn einen hohen Stellenwert besitzen würden. Liberalismus stehe dagegen für Relativismus, für Individualismus, sei familienschädlich und universalistisch ausgerichtet, was dem ethnozentrisch nationalistischen Ministerpräsidenten zuwider ist. Liberal heiße, offene Grenzen für alle, ungezügelte Einwanderung ohne Kontrolle, willentliche Zerstörung des Nationalstaates, gleichgültige Hinnahme der Islamisierung des Christentums. Mit einem Wort, Liberalismus sei die Preisgabe, ja die Vernichtung der Nation. Treibende Kräfte des Liberalismus in Europa seinen die westlichen Intellektuellen, das Weltjudentum, die Finanzplutokratie und nicht zuletzt auch Brüssel. Dahinter stecke bzw. stehe Orbáns Lieblingsfeind, der liberale Finanzmilliardär George Soros aus den Vereinigten Staaten. So weit das apokalyptische Verschwörungsszenario von Viktor Orbán, das dank permanenter Medienberieselung, in der Bevölkerung zu Allgemeingut schlechthin geworden ist.
Zur Ideengeschichte der liberalen Demokratie
Der für uns heute so selbstverständliche Begriff der liberalen Demokratie entstand erst in den zwanziger-dreißiger Jahren, wie der englische Ideenhistoriker Duncan Bell herausgefunden hat. Mit Marktfreundlichkeit, Judenfreundlichkeit oder gar Migrationsfreundlichkeit, mit dem man heute den Begriff liberal, besonders in rechtsnationalen Kreisen, betrachtet, hatte er nichts gemein. Mit dem damals eingeführten Begriff in die politische Diskussion wollte man sich absetzten von den rechts-nationalen, so genannten identitären, wie auch von den links orientierten volksdemokratischen Ideenkonzepten im damaligen England. Beide Politikmodelle waren nicht wirklich demokratisch. Um sich von beiden, rechten wie linken, Gesellschaftsmodellen zu distanzieren, entstand der Begriff der liberalen Demokratie, deren Kernvision bis heute die freiheitliche Entfaltung der individuellen Persönlichkeit ist, so, wie das von Wilhelm von Humboldt im 19. Jahrhundert als Ideal formuliert wurde.
Viktor Orbáns Konzept der „illiberalen Demokratie“ kann als späte Wiedergeburt des rechtsnationalen identitären Demokratie-Konzepts des deutschen Staatsrechtlers der Zwischenkriegszeit, Carl Schmitt, angesehen werden. Nach diesem Konzept kann eine Führerpersönlichkeit durch Akklamation, durch Zuruf der Masse, ohne geheime Einzelabstimmung eine mystische Einheit mit dem Volk nachweisen und dadurch seine Legitimierung als Führer beanspruchen, ohne Mehrheitsentscheid durch Wahlen. So weit geht Orbáns illiberales Politikkonzept nicht. Die Legitimierung des Ministerpräsidenten geschieht durch freie und geheime Wahl. Allerdings hat Orbán nach seiner Wiederwahl 2010 die wichtigsten strukturellen und personellen Bereiche der Staatsmacht zur Sicherung seiner Alleinherrschaft so um- und ausgebaut, dass ein fairer Machtwechsel durch Wahlen nicht mehr möglich ist. Denn einmal an der Macht, trachten völkisch-autoritäre Führer wie Orbán dazu, die Gewaltenteilung im Staate aus dem Gleichgewicht zu bringen. Solche Autokraten treten seit der Jahrtausendwende nicht nur in der EU, sondern auch in Vorderasien (Erdoğan/Türkei) und auch in klassisch demokratischen Staaten (Trump/USA) auf. Autokraten, die qua Macht ungleiche Bedingungen schaffen und sich mit unfairen Methoden Mehrheiten organisieren. Die mit wohldurchdachter Strategie durch vorsorgliche personelle Ausstattung der Ordnungs-, Verwaltungs- und Rechtsbürokratie mit eigenen Gefolgsleuten das wirksamste Instrument der politischen Meinungsbildung, gemeint ist die freie Medienvielfalt, beherrschen. Dieses Ziel hat Orbán bereits seit seiner Wahl 2010 zielstrebig verfolgt und längst erreicht. Er hat den nach der politischen Wende unter József Antalls Regierung entstandenen liberaldemokratischen Staat zu einem autoritären Nationalstaat umgeformt.
Demokratie ist eine politische Staatsform, in der die Unsicherheit der Regierenden bezüglich ihres Mandats institutionell gesichert ist. In der die Regierenden bei Neuwahlen abgewählt werden können. In der man nie weiß, wer gewinnt und wer verliert. Staatsformen, bei denen diese Unsicherheit nicht mehr besteht, wo schon vor den Wahlen, vor den Abstimmungen alles entschieden ist, seien Führersysteme, seien keine Demokratien, schreibt der polnische Politikwissenschaftler Adam Przeworski. Echte Demokratie ist ein Staatskonzept, in dem Parteien Wahlen verlieren können. Bei uns in Ungarn kann die Regierungspartei Fidesz nicht mehr verlieren. Ihr Führer hat eine illiberale Staatsform proklamiert und verwirklicht, die auf lange Zeit nichts erschüttern kann und deren Alleinherrschaft gesichert ist. Das Wort „Demokratie“ zur Beschmückung dieser illiberalen Herrschaftsform zu vereinnahmen, erscheint mir als missbräuchlicher Versuch, den hehren Begriff Demokratie als Feigenblatt zu verwenden. Das Gegenteil von Liberalität heißt Autokratie, schlimmstenfalls Diktatur. Beide Herrschaftsformen sind illiberal, wie die von Orbán favorisierte illiberale Demokratie. Illiberalität und Demokratie sind gegensätzliche Begriffe, die sich nicht vertragen, wie Feuer und Wasser. Die real existierende Illiberalität der Orbán-Regierung mit dem Deckmantel der Demokratie zu kaschieren oder zu schmücken, ist ein billiger Taschenspielertrick, eine plumpe sprachliche Irreführung.
Kulturkampf um die letzte freie Bastion
Liberalität ist unabdingbar mit dem Begriff Freiheit verbunden. Zuförderst mit der kulturellen Freiheit. Orbán hat es geschickt verstanden den Dissens mit seinen Kritikern in einen Kulturkampf umzudeuten und sich als selbsternannten wahren Verteidiger der christlichen Werte zu proklamieren. Innenpolitisch geht es ihm um die kulturelle Deutungshoheit, die, wie er meint, noch nicht völlig gelungen sei den linksliberalen Kultur-Protagonisten zu entreißen. Die Grabenkämpfe um die kulturelle Deutungshoheit sei die letzte Bastion, dies es zu schleifen gelte, damit alle relevanten Politikfelder in den illiberalen Machtbereich seiner Regierung einkehren.
Kulturelle Lebendigkeit mit Vielfalt und Niveau wird sich aber nur entfalten, wenn sie im Geist weltoffener Liberalität entstehen kann. Wenn sie nicht ins nationale Korsett gepresst wird, wenn ihr Unabhängigkeit und Sicherheit geboten wird. Die Vorgänge um die Mitteleuropa-Universität (CEU) sprechen eine andere Sprache. Die Vielfalt aller Medien und die Unabhängigkeit des Rechts und der Gerichte sowie die Möglichkeit der Veränderung der politischen Machthabe sind wesentliche Garanten einer freien und liberalen Gesellschaftsordnung. Alle drei Säulen, eine Freiheit, die das Wort auch verdient, die Unabhängigkeit der Justiz und die Chancengleichheit im Ringen um die politische Macht bei Wahlen sind bei uns zur Zeit nicht gegeben oder stark eingeschränkt. Wir erleben eine Zeit, die das Gegenteil von Liberalität ist. In der der letzte Hort, in dem angstfreie Meinungsvielfalt öffentlich z. T. nur noch im kulturellen Bereich möglich ist und jetzt auch hier von einer autokratisch vorgehenden Regierung in ihrem Sinne gleichgeschaltet werden soll. Die Totalität der Beherrschung aller gesellschaftspolitischen Bereiche wäre damit erreicht. War es diese Freiheit, mit der vor bald 30 Jahren auf dem Budapester Heldenplatz das ganze Land und die halbe Welt den bis dahin unbekannten jungen Orbán Viktor nach seiner mitreißenden Rede für die Freiheit der Menschen und die Unabhängigkeit unseres Landes ins Herz geschlossen haben, hatte er diese „Freiheit“ gemeint?
Angstkulissen und milde Gaben zur Absicherung
Durch weitgehende existenzielle Abhängigkeit breiter Kreise sozial schwacher Bevölkerungsteile vom Staat, deren Bedienung die Regierung geschickt als großherzige Gaben von Orbán erscheinen läßt, und durch die permanente Schürung von Angst (Migrations-Monster Soros, EU-Diktatur aus Brüssel, alle sind gegen Ungarn, wollen uns unterjochen) scheint die „rettende Macht“ Orbáns gut abgesichert zu sein. Sie wird als die lange illiberale Zeit in die Geschichte unseres Landes eingehen.